Nada Brahma - dem Ohr folgen

Klavier der Marke Schimmel junior offen

Lassen Sie uns gleich mit dem Hörbeispiel beginnen:

Vorsicht Überraschung! wurde ich von den Klavierbesitzern vor dem Probespiel gewarnt. Tatsächlich waren da ein paar ganz besonders auffällige Einzeltöne. Was war da passiert? Der neue Besitzer des gebraucht erstandenen Klangmöbels hatte versucht, die Stimmung selber zu korrigieren. Da hat er aber viel Glück gehabt, denn obwohl er hörbar komplett daneben gelegen war, sind ihm keine Saiten gerissen!

Krasse Verstimmung

Meine weitere Analyse ergab, dass das Klavier mit 440 Hertz für sein Alter zu hoch gestimmt war. Das Baujahr ist laut Einträgen auf der Gussplatte vom Patentamt des Deutschen Reichs wohl in dieser dunklen Zeit zu vermuten, die 1945 endete. Außerdem waren wohl schon Saiten gerissen und erneuert sowie Stimmnägel ausgetauscht worden. Das sind in der Summe Warnsignale hinsichtlich des Zustands des Klaviers. Daher orientierte ich mich beim Stimmen etwas tiefer, nämlich bei 438 Hertz.

Altersbestimmung des Klaviers von Schimmel junior anhand des Logos im Klavier mit Hinweisen auf das Deutsche Reich

Wenn man die Aufnahmen von Vorher und Nachher miteinander vergleicht, so stellt man natürlich fest, dass nachher alles präziser, harmonischer und somit besser als vorher klingt. Das war das Ziel der Übung und entspricht somit der Erwartung.

Schimmel junior gestimmt

Erlebnishören

Doch beim Hören passiert noch etwas anderes. Gerade beim Anhören der Aufnahme vor dem Stimmen ist man beim ersten Mal ob der krass verstimmten Töne überrascht. Diese werden natürlich zuerst als Störung eingeordnet. Aber dann ändert sich etwas bei der Bewertung und anschließend bei der Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Denn man beginnt unterbewusst, ausgerechnet diese komplett aus der Reihe fallenden Töne zu erwarten. Treffen die erwarteten Misstöne ein, erfüllen sie unsere Erwartung. Dafür gibt es eine Belohnung.

Was sagt die Hirnforschung dazu?

So genannte Neuro-Transmitter nehmen Einfluss auf unser Glückszentrum, den Nucleus Accumbens. Dort lösen die Neurotransmitter zuerst einmal unsere Erwartung aus. Daher spricht man beim Nucleus Accumbens nicht nur vom Glücks- sondern auch vom Suchtzentrum, wegen der hier initiierten Erwartung. Bei Eintreffen der erwarteten Signale wird über den gleichen Botenstoff die Ausschüttung der Belohnung eingeleitet, nun aber aus dem Mesolimbischen System. An der Stelle sollte ich für diejenigen, für die diese Begriffe aus der Hirnforschung neu und somit ungewohnt sind, erwähnen, dass das hier vorgestellte Mesolimbische System nur ein Teil des vielleicht bekannteren Limbischen Systems ist, das an der Verarbeitung von Emotionen, der Entstehung von Triebverhalten sowie an intellektuellen Leistungen beteiligt ist. Interessanterweise ist das Mesolimbische System zuständig für die positiven Emotionen. Das heißt, als Belohnung gibt es Freude, die sich als eine positive Verstärkung eines Verhaltens auswirkt. Daher spricht man beim Lernen von einem Belohnungslernen, da über die Aktivierung des Mesolimbischen Systems Lustgefühle erzeugt werden. Im Mesolimbischen System wirkt vor allem das fürs Antriebsverhalten und die Motivation notwendige Dopamin. Und da wir uns auf diesen Seiten ja im wesentlichen über die musikalische Stimmung unterhalten, ist es meiner Ansicht nach ganz besonders aufschlussreich, dass die Neuro-Transmitter teilweise auch die Wirkung von Neuro-Modulatoren haben. Diese Stoffe besitzen vielfältige Funktionen. Unter anderem beeinflussen sie uns beim Lernen und sie modulieren unsere Stimmung, und das heißt, sie verstärken, schwächen ab oder verändern unsere momentane Befindlichkeit. Vor diesem Hintergrund kann man durchaus den Transfer wagen, daß zum Beispiel die einzelnen Kriterien der guten Klavierstimmung auf uns im Sinne von Modulatoren wirken, die unsere Stimmung beeinflussen. Da wir nun bei unserer Stimmung und Befindlichkeit angelangt sind, sollte ich noch den zweiten wichtigen Neurotransmitter erwähnen, das Serotonin, das im Gegensatz zu Dopamin eine die Erregung dämpfende Wirkung hat.

Kehren wir zu den Phänomenen des Hörens, also der Veränderung der Bewertung des Gehörten, bei unserem Hörbeispiel zurück:

Die auffällig verstimmten Töne waren anfangs noch eine Störung. Die hat sich nun in einen Inhalt mit Bedeutung verändert. Das heißt, das aus etwas, das wir gerade noch zu vermeiden suchten, etwas Neues geworden ist, das wir erwarten. Ja wir suchen regelrecht nach diesem Muster, das für uns plötzlich eine Besonderheit darstellt. Nun hört man dem Stück regelrecht belustigt zu und ist am Ende tatsächlich enttäuscht, wenn die eigentlich disharmonischen Einzeltöne im Vergleich zum Anfang nur noch selten erklingen. Das ist ein Hinweis auf den fast schon fatalen Charakter des Faktors der Sinnlichkeit. Denn unsere Sinne als Bewerter der gehörten, gesehenen, gefühlten, geschmeckten, gerochenen Qualität wollen einfach immer mehr davon bekommen, wenn das Wahrgenommene mittels der Gefühle eine positive Bewertung erhalten hat. Der Charakter der Sinnlichkeit wird bestimmt durch die Verbindung der über die Sinneskanäle empfangenen Informationen, unsere Erwartungshaltung und die Glückshormone aus dem Belohnungszentrum, wenn unsere Erwartungen erfüllt werden. Diese Erkenntnis ist nun aufgrund des Hintergrundwissens aus dem Absatz darüber konkret nachvollziehbar.

Hört man sich nun zum Vergleich die gestimmte Version an, geschieht wiederum etwas Unerwartetes. Denn diese Version wirkt auf einmal fast langweilig und man hat kein richtige Lust, sich die Aufnahme bis zum Ende anzuhören, da hier nun alles so brav, ordentlich, eben harmonisch erklingt.

Was ist hier geschehen? Uns ist zufällig eine andere Form des Hörens bewusst geworden. Damit verbunden war ein bestimmtes Erlebnis. Erlebnisse gehen uns unter die Haut. Das heißt, besondere Gegebenheiten werden als wichtig markiert. Aufgrund der Bedeutung werden sie mit einem wertenden Gefühl verbunden. Lebenserfahrung ist somit ein Erfahrungsschatz, wenn das Leben mit unter die Haut gehenden Erlebnissen angereichert worden ist. Auf der Basis dieser hoffentlich umfassenden Sammlung von Erfahrungen können wir in Zukunft neue Situationen über unser Bauchgefühl schnell zuordnen und einschätzen, ob diese für uns gut oder schlecht sein könnten. Die Verbindung aus dem eigentlichen Erlebnisinhalt mit einem Gefühl lassen uns das Erlebnis mit Gefühl als Erfahrung quasi automatisch und dauerhaft speichern. Wir sehen: Lernen kann ganz einfach sein!

Ohne Üben geht nichts. Oder doch?

Was können wir mit dieser Einsicht anfangen? Wenn man etwas lernen will, heißt es, muss man es wiederholen. Diesen für die Speicherung eminent wichtigen Vorgang nennt man Üben. Nun, wenn man die Möglichkeit hätte, mit unterschiedlichen Klängen und vielleicht auch noch mit Effekten zu spielen, könnte aus dem trockenen, da monoton wiederholenden Üben ein spielerisches Erlebnis machen. Diese Erfahrung wollten wir häufiger machen, um die mit dem Erlebnis verbundenen Gefühle wieder spüren zu können. Da war Spannung, Pep und Spaß drin – ganz anders als bei technischen Fingerübungen!

An der Stelle lohnt sich eine Unterscheidung. Denn die methodisch-didaktisch geschulten Klavierlehrer werden einwerfen, dass das nicht geht. Übungen müssen aus Wiederholungen bestehen und Monotonie ist unvermeidlich, da man ja am Ende darauf abzielt, nur eine ganz bestimmte Form, bezogen auf die Musik ein ganz bestimmtes Stück zu lernen. Man lernt über diesen Prozess also immer wieder neue Stücke, entwickelt spieltechnisch neue Lösungen und verfeinert diese durch entsprechende Fingerübungen. Am Ende hat man ein Repertoire an Stücken. Damit kann man vor ein Publikum treten und dieses damit unterhalten.

Aber… Sie ahnen es schon. Hier wird die Unterscheidung tatsächlich interessant. Denn wenn man diesen Weg des rein wiederholenden Übens zum Herausbilden einer bestimmten musikalischen Form beschreitet, verbaut man sich gleichzeitig den Zugang zum variablen, freien Umgang mit den musiksprachlichen Elementen. Interessanterweise gilt das aber nicht umgekehrt. Also wenn man den Weg über das Variieren, Erkunden und Experimentieren wählt, verbaut man sich darüber keineswegs den Zugang zu spieltechnisch einwandfreien Lösungen. Davon erzählt das 2017 gerade 22 Jahre junge Musikgenie Jacob Collier in Interviews. Er antwortet auf Fragen ganz offen, berichtet von seinem Weg und vor allem von der Rolle und Bedeutung von Gefühlen im Rahmen seiner musikalischen Entwicklung.

Der junge Mann kann nicht nur sehr gut musizieren, sondern er kann auch arrangieren und komponieren. Dafür braucht man die Kenntnis der Harmonielehre. Darüber spricht er in Interviews und erläutert manch komplexe Akkorde indem er die Einzeltöne dazu singt. Diese Aufnahmen wurden von dem Videofilmer nachträglich bearbeitet. Das heißt, man sieht parallel dazu die Noten. Gelegentlich spielt er gesungene Töne auch parallel auf dem Klavier oder Keyboard.

Als Multi-Instrumentalist und Sänger werden einem nebenbei die unterschiedlichen Möglichkeiten aber auch Grenzen der verschiedenen Musikinstrumente bewusst. Als Musiker mit Herz ist man am Optimum des musikalischen Ausdrucks interessiert. Kann man ein zur Intonation fähiges Instrument spielen, so wird man dieses Potenzial sehr schnell wertschätzen lernen. Bei Jacob wurde dieser Prozess intensiviert, als er mit 15/16 begann, sich für Jazz zu interessieren. Die dort üblichen Akkorde mit ganz unterschiedlichem Potenzial an Spannung könnten mittels der so genannten Mikrotonie weiter differenziert, noch feinfühliger aufgebaut und nachfolgend aufgelöst werden. Darüber spricht und singt Jacob im folgenden Video:

Die Entwicklung Jacob Colliers genauer zu studieren, halte ich für sehr interessant. Denn wir erfahren, dass ein alternativer Weg im Endeffekt höchst effektiv sein kann. Schließlich ist Jacob wie bereits erwähnt ein Multi-Instrumentalist, der sich weitgehend alle Instrumente selbst beigebracht hat, und der sein Können gerade im Rahmen einer langen Konzerttournee unter Beweis gestellt hat, bei der er alleine auf der Bühne von Instrument zu Instrument unterwegs war, die er mittels Loop-Station zu einer Einheit verband! Nach meiner persönlichen Einschätzung verfügt Jacob Collier über einen außergewöhnlichen Erfahrungsschatz auch in körperlicher Hinsicht. Seine Vorgehensweise beim Lernen unterscheidet sich vermutlich komplett, von allen (mir) bekannten Lernwegen. Für sein Alter ist er erstaunlich reif, kann Fragen sehr schnell einordnen und klug beantworten. Daher denke ich: Das wesentliche Potenzial Jacob Colliers besteht darin, wie er lernt.

Gehen wir also noch einmal zurück zu dem Punkt, an dem wir uns erlaubt haben, uns vorzustellen, mit unterschiedlichen Klängen und Effekten zu experimentieren. Wir haben die Ausführungen variiert, indem wir die Ausführungsbedingungen gestaltet haben. Was wird wohl im nächsten Schritt dieser spielerisch-lustvollen Erkundung der Wirkung der unterschiedlichen musikalischen Möglichkeiten stattfinden? Richtig, es öffnet sich das Fenster zur Variation. Wir beginnen das Stück nach unserem Empfinden zu interpretieren – und befinden uns auf den ersten Schritten zur mittlerweile weitgehend verloren gegangenen, von allen Musikinteressierten aber gleichzeitig mit Höchstnoten versehenen Fähigkeit der Improvisation. Das muss auch eine ganz besonders wertvolle Form des Musizierens sein, denn Improvisation heißt ja übersetzt Verbesserung. Darüber hinaus eröffnet uns die Fähigkeit zur Improvisation den Zugang zum freien musikalischen Dialog mit anderen Musikern. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen solch wunderbaren musikalischen Dialog zwischen einem Vorbild von Jacob Collier, nämlich Bobby McFerrin, und Joey Blake als einen kleinen Exkurs zeigen:

Die mit einem wie oben beschriebenen Lernweg verbundenen Erfahrungen sind wiederum die Grundlage dafür, dass wir irgendwann anfangen, unsere eigene Musik zu erschaffen. Zuerst wird sie im Spiel entstehen, oder in unserer Vorstellung als Idee erscheinen, die wir dann in die Sprache der Musik übersetzen müssen. Die so erreichten ersten Ergebnisse werden wir als Komposition festhalten, indem wir sie aufzeichnen. In weiteren Schritten könnten wir mit unseren zeitgemäßen Möglichkeiten an den Feinheiten feilen,

oder noch einmal in eine Phase des experimentellen Spielens mit den Elementen dieses Stückes eintauchen, um herauszufinden, welches Potenzial sich darin noch verbirgt. Das Entstehen eines musikalischen Werkes ist ein kreativ-konstruktiver Prozess. Diesen zu erleben ist eine ganz wesentliche Erfahrung. Musik kann einen großen Beitrag dazu leisten, wenn es darum geht, Kreativität als Basisfähigkeit zu entwickeln, um die gigantischen Probleme zu lösen, die wir in nur 200 Jahren Industrialisierung geschaffen haben – falls wir uns erlauben, die Lernziele im Musikunterricht dementsprechend zu verändern. Auf der Basis neuer Lernzeile wird die heute weitgehend auf die Reproduktion reduzierte Musik eine Renaissance erfahren. Mit dem wieder gefundenen Zugang zur Musik als Sprache unserer Gefühle wird sich auch bei uns Menschen Wesentliches verändern, nämlich die Wertschätzung von Gefühlen als unmittelbares Feedback über der Befindlichkeit im Kleinen wie im Großen. Wir werden sensibler miteinander umgehen und Empathie (wieder) kultivieren. Das bedeutet in der Konsequenz das Ende der Kriege, das Ende des Leidens. Denn wir werden unseren Fokus empathisch auf die gemeinsame Lösung von Problemen ausrichten, anstatt egoistisch ständig neue zu erzeugen.

Das schier Unmögliche ist heute schon real

Sie wenden ein, das wäre alles nur philosophisches Geschwafel und der vorgeschlagene Lernweg ist so am Klavier ja gar nicht möglich! Doch, es ist möglich Klänge zu variieren und mit Effekten am Klavier zu spielen, wenn Sie Ihr gutes Akustikpiano in ein akustisches Hybridklavier mit den neuesten Eigenschaften umbauen! Dann kann Ihr Piano nicht nur entweder Akustikklang oder Digitalsound, sondern es beherrscht das Sowohl-als-auch in Form von Hybridsounds! Und Sie können bereits angespielte Töne dank Sensoren auf der Tastenoberfläche mit Effekten in der Wirkung verfeinern. Es ist nicht die Technik, die diesen Weg verhindert. Es ist das Wissen um die Möglichkeiten sowie vor allem unsere Einstellung zu Neuem und insbesondere zum Lernen.

Zum Seitenanfang Zurück zur Themenübersicht