Henriette Gärtner mit der PianoFormance© eines Franz Liszt

Am 8. November 2015 gastierte zum zwanzigsten Mal (!) die Konzertpianistin Henriette Gärtner im Neuen Schloss von Bad Lobenstein. Praeludio® wurde mit dem Klavierservice sowie der Konzertbetreuung beauftragt. Es ging also nicht nur darum, den Flügel in die richtige Konzertstimmung zu bringen, sondern auch das Konzert auf Video aufzuzeichnen. Als besondere Belohnung bekam ich daher den Ehrenplatz in der ersten Reihe gleich neben Frau Leuschner, die vor 13 Jahren Henriette Gärtner für Bad Lobenstein entdeckt und danach bis vergangenes Jahr die Konzerte selbst organisiert hat, indem sie nicht nur jeden Gast persönlich eingeladen hat, sondern diesem auch selbst die Karten überreichte.

Der Klavierservice für Henriette Gärtner ist eine besondere Service-Kategorie. Denn diese Pianistin reist schon ein oder zwei Tage vorher an, um sich gezielt auf den jeweiligen Flügel vor Ort einzuspielen, und sich auf die spezifische Akustik des Konzertsaals einzustellen. Das bedeutet:

  • Stimmen vor der Probe.
  • Stimmen nach der Probe und somit unmittelbar vor dem Konzert.
  • Stimmen in der Pause des Konzerts.

Flügel stimmen in der Konzertpause? Ja, die musikalische Power sowie die spieltechnische Dynamik dieser groß gewachsenen Frau ist bei den entsprechenden Werken für jeden Flügel ein intensiver und an die Grenzen gehender Test. Der Klavierservice muss bereit sein, diesen Weg mitzugehen.

Das Programm für das zwanzigste Klavierkonzert Henriette Gärtners in Bad Lobenstein bestand aus Werken von

Das Publikum bekommt vor jedem Stück eine charmante Einführung in das jeweilige Werk. So erfahren wir zum Beispiel von Couperin bei der Gelegenheit, dass er das Basiswerk einer Klavierschule geschrieben hat. Jean Philip Rameau forcierte die Spieltechnik. So begegneten sich hier die Hände beim Ineinandergreifen ähnlich wie bei den Goldberg-Variationen (1741) von Johann Sebastian Bach (1685 − 1750) erstmals auf dem einmanualigen Hammerclavier, während man dafür vorher auf dem zweimanualigen Cembalo mehr Spielraum hatte. In beiden Fällen handelt es sich um den Wechsel des Instruments, nachdem die Komposition bereits geschrieben war. Denn die Werke entstanden in der Zeit des Übergangs vom Cembalo zum Hammerclavier. Ursprünglich gedacht waren die Kompositionen für das Cembalo. Als das jedoch aus der Mode kam, waren die trendigen Hammerclavierspieler mit dem Problem einer diesbezüglich komplexeren Spieltechnik konfrontiert. Über Tschaikowski habe ich erfahren, dass er und die gesamte russische Musik durch Robert Schumann (1810 − 1856) inspiriert worden sind.

Doch all das ist zu Beginn des zweiten Teil des Konzerts Vergangenheit. Henriette Gärtner kündigt mit dem nächsten Werk einen Achttausender für Pianisten an: Die 1853 komponierte h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Achttausender flößen Bergsteigern Respekt ein. Doch man merkt ihr weder Furcht noch Selbstzweifel vor der Tortur der Besteigung eines der höchsten Gipfel der Klaviermusik an. Nein, Frau Gärtner erläutert ihrem Publikum die Feinheiten des Werks mit einer spürbaren Vorfreude.

So erfahren wir nun, dass Franz Liszt zu seiner Zeit als der beste Interpret der Werke von Ludwig van Beethoven (1770 − 1827) angesehen war. Das heißt, ihm war die Konstruktion einer Sonate sehr wohl bewusst. Doch in der h-Moll-Sonate brach er alle Regeln, denn diese Sonate hat keine Sätze, ja nicht einmal eine Pause!

Natürlich hat das Werk trotzdem eine Struktur. Um diese anschließend quasi mit den Ohren lesen zu können, stellt sich die Frage: Welche Geschichte erzählt dieses Werk? Nun, die Komposition ist die musikalische Übersetzung des Dialogs zwischen Dr. Heinrich Faust als einen unzufriedenem Gelehrtem und Mephistopheles, dem Teufel aus Goethes Tragödie Faust. Es geht um nichts geringeres als um die Seele des guten Faust als Preis für Jugend und Schönheit. Soweit die Erläuterungen. Nun zur Musik.

Die h-Moll-Sonate von Franz Liszt in der Interpretation von Henriette Gärtner begann mit Stille. Die Entspannungs- und Konzentrationsphase der Pianistin unmittelbar vor ihrer Performance geht fließend über in die Stille am Anfang des Stücks, die für das Publikum gar nicht enden will. In meiner Rolle als Konzertbesucher bemerke ich, wie in mir mit zunehmender Dauer die Spannung steigt. Aus meinem Unterbewusstsein taucht die Ahnung auf, dass hier gerade etwas Großartiges entstehen könnte! Doch das ist lediglich die noch unbewusste Ahnung. Der bewusste Gedanke ist tabu. Denn aus dem Gedanken könnte eine Erwartung entstehen. Zwar weiß niemand, wie es vor sich geht, wenn sich solche Erwartungen verselbstständigen und es zu Übertragung der Gedanken kommt. Doch immer wieder ist zu beobachten, wie das gerade noch scheinbar Mögliche urplötzlich aufgrund einer derartigen Erwartung im Keim erstickt wird. Daher beschränke ich mich darauf, der entstehenden Magie des Augenblicks zu folgen.

Das Werk entwickelt sich. Er erfordert von der Künstlerin ein Höchstmaß an Empathie ebenso wie an pianistischer Brillanz. Franz Liszt konzipierte meisterhaft das Storytelling der kultivierten Tonkunst. Die Schwingungen der dramatischen Melodien gepaart mit einem rauschenden und oftmals donnernden Klangspektrum scheinen die Schwerkraft zwar nicht für den Konzertflügel jedoch für die über die Tasten perlenden Finger der Pianistin aufzuheben. Der musikalische Dialog rund um den Teufelspakt ist nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar, wenn die Pianistin beide Hände von der Klaviatur zur Seite reißt, als würden ihre Arme nach dem Hieb mit einem beidhändig geführten Schwert ausschwingen. Henriette Gärtner interpretiert das Werk als Botschafterin des Komponisten – nein, sie lebt es im Moment des Konzerts, ist quasi ein Medium zwischen dem Tastenkünstler Liszt von damals und dem Publikum heute! Dieses österreichisch-ungarische Multitalent aufleben zu lassen, bedeutet, das schier Unmögliche möglich machen. Als Pianistin muss Henriette Gärtner ähnlich ehrgeizig sein, wie Franz Liszt es damals war, als er 1832 nach dem Besuch des Konzerts von Paganini in Paris begann, mit enormen Übungseinsatz das Klavierspiel quasi neu zu erfinden. Um die orchestrale Virtuosität dieses Tasteninstruments vollends auszuschöpfen, muss man an die Grenzen des Möglichen gehen und diese gelegentlich auch überschreiten. Das Publikum ist verzaubert vom waghalsigen Mut dieser Pianistin ohne Netz und durchlebt das Spannungsfeld des Teufelspakts zwischen Faust und Mephisto dargeboten in einer perfekten PianoFormance©. Der letzte Ton ist verklungen. Die Sonate endet wie sie begann: Mit Stille. Atemlose Stille. Absolut nichts ist zu hören, bis die Pianisten gegenüber ihren Zuhörern das tatsächliche Ende erkennen lässt. Gemeinsam atmen Henriette Gärtner und ihr Publikum erst einmal tief durch. Dann verwandelt sich das Staunen über all das soeben Gesehene und Gehörte in Standing Ovations! Tief beeindruckt verlassen wir das Neue Schloss von Bad Lobenstein. Wir haben soeben erlebt, wie Henriette Gärtner Musik als Messe zelebriert.

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